Auf Betreiben von Erzbischof Conrad Gröber forderte am 17. Mai 1945 das Erzbischöfliche Ordinariat Freiburg per Erlass an die Dekanate von allen katholischen Pfarrämtern Berichte zur jüngsten Vergangenheit ein. Darin sollten die Ereignisse vor, während und nach der Besetzung durch die alliierten Truppen benannt und die Kriegsschäden an den kirchlichen Gebäuden aufgeführt werden. Die in der Regel zeitnah von den örtlichen Pfarrern verfassten Antworten fielen unterschiedlich lang und ausführlich aus. Sie geben uns einen zuverlässigen Einblick in die Vorgänge und Zustände in den einzelnen Gemeinden während der letzten Phase des Krieges und in den ersten Monaten der Besatzungszeit.
Das Pfarramt in Zell a. H. beantwortete den Freiburger Erlass am 2. Juli 1945 mit einem vierseitigen Schreiben, das ohne Unterschrift an das Ordinariat geschickt wurde. Es steht zu vermuten, dass der Bericht von Friedrich Neymeyer verfasst wurde, der zwischen 1935 und 1948 Pfarrer in Zell war. Denkbar ist allerdings auch, dass Anton Rapp, der hier von 1941 bis 1948 als Vikar wirkte, der Berichterstatter gewesen ist. Der Bezirk der Pfarrei mit ihren insgesamt 4.154 Katholiken umfasste neben der Gemeinde Zell auch die Gemeinden Unterharmersbach, Unterentersbach und Oberentersbach, jeweils mit den umliegenden Weilern, Zinken und Höfen.
Ankunft der „Marokkaner“ am 19. April 1945
Die Ereignisse vor der Besetzung außer Acht lassend, schildert der Bericht die Ankunft der Franzosen – „in der Hauptsache Kolonialtruppen (Marokkaner)“ – am 19. April 1945. Während am Vormittag Artilleriegeschosse aus Richtung Nordrach einschlugen, warfen gegen Mittag – „ein wahres Höllenkonzert“ – feindliche „Jabos“ ihre Bomben ab. „Zu allem Überfluss sprengten abziehende deutsche Sprengkommandos noch einzelne strategisch unwichtige Brücken und Stege.“ War die anschließend einsetzende „unheimliche Ruhe“ nur die „Ruhe vor dem Sturm“? Die am frühen Abend in drei Kolonnen teils beritten, teil zu Fuß einmarschierenden Soldaten der französischen Kolonialtruppen beschrieb der Verfasser als „furchterregende und schreckeneinflössende Gestalten“. Auf dem Rathausplatz wurde ihnen die Stadt durch den Bürgermeister übergeben, „der anerkennenswerterweise seine Vaterstadt nicht verlassen hatte, wie andere verantwortliche Pgs, die ihr Heil in feiger Flucht suchten oder irgendwo im „Volkssturm“ untergetaucht waren.“
15 Personen starben durch Kriegshandlungen
Nach der erfolgten Besetzung seien „Plünderungen und leider auch einzelne Vergewaltigungen“ an der Tagesordnung gewesen. „Hühner, Hasen und Schafe waren ihres Daseins nicht mehr sicher, ebenso wenig Fahrräder, Motorräder, Uhren und Schmuck, alles was glitzerte und glänzte.“
Gegenüber den Bewohnern des Pfarrhauses verhielten sich die Soldaten höflich; dass die rund 40 Pferde und Maulesel im Pfarrgarten ihre Spuren hinterließen, war verschmerzbar gegenüber der Tatsache, dass am „denkwürdigen 19. April“ in Zell 15 Personen durch Kriegshandlungen starben. Unter diesen waren tragischerweise sieben französische Kriegsgefangene, die, folgt man dem Bericht, „durch eigene Flugzeuge, sechs Stunden vor ihrer Befreiung nach 5-jähriger Gefangenschaft“ ums Leben kamen. Außerdem traf es sechs Zivilisten und zwei (deutsche) Soldaten.
Durch Granat- und Bombensplitter wurden einige Menschen schwer verletzt. In Unterentersbach äscherte Artilleriebeschuss einen Hof vollständig ein, wobei sämtliches Vieh verbrannte; der Besitzer konnte gerade noch sein Leben retten.
Bombardierung von Zell a. H.
Wie gewünscht ging der Berichterstatter auch auf die Schäden an den kirchlichen Gebäuden ein. Die Bombardierungen Zells an Weihnachten 1944 und am 21. Februar 1945 richteten an der Stadtkirche größere Zerstörungen an. Die Wallfahrtskirche blieb bei diesen Angriffen verschont; sie erlitt erst infolge der erwähnten Brückensprengung durch die eigenen Leute namhafte Schäden. Während das Pfarrhaus nahezu unbehelligt blieb, büßte die Pfarrscheuer einen Teil ihres Daches ein. Eine ähnliche Bilanz zog der Bericht für Zell insgesamt: Viele Beschädigungen an den Zeller Häusern konnten alsbald ausgebessert werden; fünf Häuser waren allerdings total zerstört worden, so dass ein Neubau erforderlich war.
Pessimistische Zukunftsprognose
Hinsichtlich der aktuellen Lage in der Pfarrei wies der Verfasser darauf hin, dass die örtlichen Fabriken den Betrieb wieder aufgenommen hätten. „Die hiesige Bevölkerung verhielt sich während der Besetzung und auch nachher diszipliniert und bewahrt den Besatzungstruppen gegenüber die nötige Zurückhaltung, von einigen ehrvergessenen Frauenzimmern abgesehen {…} Die früheren Pgs sind kleinlaut geworden und wollen ihre Vergangenheit vergessen machen, was aber den wenigsten gelingen dürfte.“
Erfreulicherweise hätten manche Menschen den Zugang zur Kirche wieder gefunden, manch andere jedoch noch nicht: „Vielleicht trifft diese der Gnadenstrahl Gottes in der Zukunft, die düster für uns alle vor uns liegt.“ Mit dieser pessimistischen Prognose schloss der Kriegsbericht aus Zell.
Unser Gastautor
Foto: Hanspeter Schwendemann
Dr. Ludger Syré wurde 1953 in Münster/Westfalen geboren. Er studierte Geschichte und Germanistik und schlug nach der Promotion in Osteuropäischer Geschichte die Laufbahn des Höheren Bibliotheksdienstes ein. Von 1988 bis 2020 war er Fachreferent für Geschichte und Baden-Württemberg und Leiter der Digitalisierung an der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe. Er ist Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Mannheim und Autor zahlreicher Publikationen.
Quelle:
Die „Kriegsberichte“ aus den Pfarreien des Erzbistums Freiburg: Zustände und Entwicklungen am Kriegsende und in der ersten Nachkriegszeit / bearb. von Jürgen Brüstle, Annemarie Ohler, Norbert Ohler und Christoph Schmider. – In: Freiburger Diözesan-Archiv 141 (2021), Seite 117-509 [Dekanat Kinzigtal S. 407-475].