Gedenkrede zum 200. Geburtstag von Franz Joseph Ritter von Buß von Dr. Wolfgang Schäuble, MdB, gehalten am 23. März 2003 in Zell am Harmersbach.
Am kommenden Montag, 22. Januar 2024, findet im Berliner Reichtag ein Staatsakt statt, in dem Politiker und Ehrengäste aus Deutschland und Europa Abschied nehmen von Dr. Wolfgang Schäuble. Es ist zu erwarten, dass die Trauerredner dort die vielfältigen Verdienste dieses Vollblutpolitikers herausarbeiten.
Statt ein weiteres Mal ü b e r ihn zu reden, scheint es im Sinne einer würdigen Ehrung hier nicht unangemessen, Wolfgang Schäuble noch einmal selbst zu Wortkommen zu lassen und zwar mit seiner denkwürdigen Rede, die er 2003 in dem kleinen Ort seines Wahlkreises, in Zell am Harmersbach, zum Thema „Die Gegenwartsbedeutung des Franz Josef Buß“ gehalten hat.
In dieser Rede erlebt man sozusagen „live“, was Wolfgang Schäuble Zeit seines Lebens auszeichnete, mit beherztem Zugriff und scharfsinnigem Verstand vorzugehen und in diesem Kontext die Wesenszüge des berühmtesten Sohnes der Stadt Zell, Franz Joseph Buß, zu würdigen, die er bei der Lektüre der sog. Fabrikrede als modern und zeitgemäß für das 21. Jahrhundert herausfand.
Diese Fabrikrede hat Schäuble jedenfalls sehr genau gelesen und auch verinnerlicht, wenn er die inzwischen verwirklichten sozialpolitischen Forderungen abhebt von den in der Buß-Rede von ihm herausgefilterten fünf Problemfeldern, die bis zur Gegenwart, man kann hinzufügen sogar bis zum heutigen Tag, einer Lösung, obwohl dringlich, entgegensehen:
– Die Nachteile sog. fortschrittlicher Erneuerungen in Politik und Wirtschaft nicht nur zu erfassen, sondern zu bekämpfen.
– Die Einheit des Christentums über den Tellerrand konfessionellen Denkens anzustreben.
– Stärkung der Landwirtschaft im Sinne eines Gleichgewichts gegenüber industrieller Produktion
– Stärkung von Handwerk und Gewerbe im Sinne einer fairen Mittelstandspolitik. Schäuble wörtlich: „Viel weiter sind wir auch heute nicht gekommen.“
– Buß als Vorläufer einer sozialen Marktwirtschaft, die Solidarität mit Eigennutz verbinden kann.
Gedenkrede von Dr. Wolfgang Schäuble, gehalten am 23. März 2003 in Zell am Harmersbach
In meinem Abgeordnetenbüro in Berlin hängt ein Portrait von Konrad Adenauer. Es stammt von einer Freiburger Malerin, die die Tochter von Heinrich Höfler ist. Er war Caritas-Direktor in Freiburg und in der Nachkriegszeit Bundestagsabgeordneter unter anderem für den damaligen Kreis Wolfach, also auch für Zell. Mein Vater war damals für den Kreis Wolfach Abgeordneter im Badischen Landtag, und ich kann mich an Besuche von Heinrich Höfler in meinem Elternhaus in Hornberg erinnern. Dieser Heinrich Höfler richtete 1952 zum 150. Geburtstag von Franz Joseph Ritter von Buß einen Spen- denaufruf an die CDU/CSU-Bundestagsfraktion für eine neue Büste, da die alte unter nationalsozialistischer Herrschaft zerstört worden war.
50 Jahre später darf ich nun aus Anlass des 200. Geburtstags zu Ihnen sprechen, auch Bundestagsabgeordneter für die einstmals freie Reichsstadt Zell, wenngleich nicht Caritas-Direktor. Aber da sind wir schon bei einem Teil des Erbes von Ritter von Buß, der die Kirchen gemahnt hatte, auf den Gedanken der Einheit zu achten und gerade auch bei Wahrnehmung politischer Verantwortung zusammenzuarbeiten.
Ich will mich nicht lange damit aufhalten, Leben und Wirken von Franz Joseph Ritter von Buß noch einmal zu schildern.
Professor und Abgeordneter
1803 in Zell geboren, nach dem Abitur 1820 in Offenburg Studium der Medizin, Philosophie und der Rechtswissenschaften in Basel, Freiburg, Göttingen und Heidelberg, vierfach promoviert, 1828 in Freiburg habilitiert und seit 1833 Professor an der Universität Freiburg. Daneben Abgeordneter, seit 1837 in der zweiten badischen Kammer, dem Ständehaus in Karlsruhe für den Wahlkreis Gengenbach/Oberkirch, 1846-48 für den Wahlkreis Schönau/Säckingen.
1848 wurde er vom westfälischen Wahlkreis Ahaus/Steinfurt in die Frankfurter Nationalversammlung, die Paulskirche, entsandt und danach in das Erfurter Parlament, und schließlich wurde er noch einmal für den Wahlkreis Tauberbischofsheim/Wertheim 1874 Reichstagsabgeordneter.
Sein Vater war Bürger meister von Zell
In bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, als Schüler des Gymnasium in Offenburg konnte er Mittagessen nur als Kostgänger bei wohlhabenden Familien erhalten und den Lebensunterhalt während seines Studiums musste er sich immer durch Gelegenheitsarbeiten verdienen. Aber so waren damals die Zeiten. Der Vater war Schneidermeister und gleichzeitig Bürgermeister von 1803 bis 1830 in Zell, sogar mit dem Titel Oberbürgermeister.
Buß wuchs in einem behüteten Elternhaus mit starker kirchlicher Prägung auf. Noch als Professor musste er lange um eine einigermaßen auskömmliche Besoldung kämpfen. Überhaupt lag er viel im Streit mit der Universität und dem vorgesetzten Ministerium. Aber das Bild, dass ihm zu lange die verdiente Anerkennung versagt blieb, ist auch wieder falsch, wie nicht nur seine zahlreichen öffentlichen Ämter belegen.
1844 wurde er zum Hofrat der großherzoglichen Regierung ernannt, Papst Pius IX. erhob ihn zum Comtur des Gregorius-Ordens, und Kaiser Franz Josef adelte ihn und seine Familie 1863 und zeichnete ihn erblich als Ritter aus.
Ein ungewöhnlich aktives Leben
Wenn man die Fülle seiner Bücher, Aufsätze, Reden betrachtet, sein vielfältiges Wirken in Politik, Wissenschaft und kirchlichen Verbänden, seine humanitären Initiativen, dann wird man fast erschlagen. Begabung, Fleiß und Engagement waren ganz ungewöhnlich.
Streitlustig war er auch, focht eher mit dem schweren Säbel als mit dem eleganten Florett, ein wortgewaltiger Agitator, vor allem für den Aufbruch des politischen Katholizismus als Gegenbewegung zum politischen Liberalismus.
Die badische Revolution fand ihn auf der Gegenseite. Bei allem Einsatz für den politischen Katholizismus lag ihm an der Zusammenarbeit der beiden Kirchen, zuerst wohl in den sozialen Aufgaben, aber darüber hinaus am Gedanken der Einheit des Christentums gegen die von ihm gesehene zersetzende Kraft des Zeitgeistes. Sein sozialer und sein sozialpolitischer Einsatz haben die stärkste Nachwirkung behalten.
Seine Fabrikrede wurde berühmt
Seine Fabrikrede über die sozialen Probleme der fabrikarbeitenden Bevölkerung, gehalten am 25. April 1837 in der Zweiten Badischen Kammer in Karlsruhe, wurde berühmt. 11 Jahre vor dem kommunistischen Manifest von Marx und Engels beschrieb er die Gefahren der heraufziehenden Industrialisierung und forderte weitreichende Maßnahmen für eine menschenwürdige Ordnung der Fabrikarbeiter.
Er war nicht der erste, der die Gefahren sah und auf Abhilfe sann; aber es war das erste Mal, dass darüber in einem Parlament gesprochen wurde.
Vorteile und Nachteile von Entwicklungen
Die Verhältnisse sind heute ganz anders, jedenfalls bei uns in Deutschland und in Europa, und deshalb ist weder aus der Fabrikrede noch aus dem sonstigen Wirken von Buß so einfach ein aktuelles sozialpolitisches Programm abzuleiten. Zeitlos scheint mir allerdings sein Ausgangspunkt zu sein: „Es ist ein dunkler Zug in der Geschichte der Menschheit, dass Entwicklungen, welche sich als die segensreichsten für das Leben der Völker verkünden, oft im Gefolge Nachteile haben, durch welche ihre Wohltaten wieder getrübt werden. “
Die Staatskunst hat sich daher bei dem Eintreten solcher doppelseitigen Gesellschaftszustände stets die Frage zu beantworten, ob es in der Möglichkeit liege, ihre Nachteile zu beseitigen, und im Falle dieser Möglichkeit die Mittel und Wege zu erforschen, wie dieses mit möglichster Schonung der Vorteile solcher Zustände geschehen könne.
Er verkennt also die Vorzüge der Industrialisierung nicht, aber er sieht eben auch die Gefahren, nicht nur in wirtschaftlicher Abhängigkeit und Ausbeutung und für die Gesundheit der Arbeiter, sondern auch für die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, also auch für die Unternehmer selbst – Fabrikherren nennt er sie noch – und für den Staat.
Strukturellen Fehlentwicklungen entgegenwirken
Und von daher kommt er nicht nur zur Forderung nach einer Fabrik-Polizeiordnung, die alle die sozialen Forderungen umfasst, die uns heute selbstverständlich geworden sind, vom Kündigungs- bis zum Unfall- und Mutterschutz, dem Verbot der Kinderarbeit, berufliche Qualifikation und Weiterbildung, um einige wenige nur beispielhaft zu nennen, sondern er beschäftigt sich auch mit Überlegungen, wie man durch strukturelle Maßnahmen Fehlentwicklungen entgegenwirken kann.
Das fasziniert mich am meisten. Wie gesagt, die trostlosen Verhältnisse in den Fabrikhallen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das kennen wir jedenfalls in unseren Breitengraden heute nicht mehr. Und die Vorteile der Industrialisierung für eine größere Produktion von Gütern, also mehr Wohlstand, die hat Buß durchaus richtig gesehen und gewürdigt.
Dass die Veränderung von Wohnverhältnissen, Beschäftigung und Sozialstrukturen zur Entwurzelung führen kann, zur Zerrüttung von Familienstrukturen bis hin zu Gefahren für die Erziehung der Kinder. Und deshalb warnt er als einer der ersten vor den Gefahren des Pauperismus, der Massenarmut mit all ihren Folgen der Verelendung von Menschen und Gesellschaft.
Weil er Übertreibungen fürchtet, verlangt er von der Regierung, dass sie das früher zu sehr beschränkte Laisser faire jetzt auch nicht wieder zu weit treiben lasse. Schließlich sieht er Gefahren genauso für die Fabrikherren und für den Staat, von denen die Entstehung einer Oligarchie des Geldreichtums und die Gefahren von Aktienschwindel nicht die geringsten sind. Das klingt gar nicht so unaktuell. Und deshalb will er strukturelle Gegenkräfte stärken, um den Übertreibungen zu wehren oder, um es in unserer Sprache zu sagen, um Maß und Mitte zu wahren, Nachhaltigkeit zu sichern.
Landwirtschaft, Handwerk, Sparkassen
Ich greife drei Punkte heraus. Die Landwirtschaft will er gefördert sehen, um ein Gegengewicht zu schaffen. Wenn wir an die Bedeutung der ländlichen Räume auch heute denken, ist es höchst visionär, dass Buß schon damals ein vernünftiges Gleichgewicht forderte, nicht im Sinne von Maschinenstürmerei, sondern zur Vermeidung einseitiger und damit selbstzerstörerischer Übertreibungen.
Für eine Stärkung von Handwerk und Gewerbe plädiert er, um der Konzentration entgegenzuwirken. Viel weiter sind wir in der Erkenntnis von Mittelstandspolitik auch heute nicht gekommen. Bei der Frage, ob unbeschränkte Gewerbefreiheit oder aber ein geläutertes Innungswesen gewährt werden solle, plädiert er für das letztere, weil Ausbildung und Qualität beruflicher Leistung so besser gewährleistet sei.
Vor allem die Sparkassen liegen ihm am Herzen, weil so die Ersparnisbildung und die Kreditversorgung verbessert werde. Angesichts unserer Debatten um Basel II und Bankenkrise klingt auch das alles andere als unmodern.
Und vor allem Ausbildung und Erziehung der Kinder, der Arbeiter, der Handwerker, zur Sozialisation wie zur beruflichen Erst- und Weiterbildung, Stärkung der Familien, auch Schulpflicht und Kindergärten. Und die Mittelklasse als Vorkehr gegen Massenarmut auf der einen und Oligarchie der Reichen auf der anderen Seite, also Mittelstand für soziale Durchlässigkeit und Stabilität zugleich.
Buß setzte auf Ausgleich
Jede menschliche Ordnung ist nur vorläufig und immer durch Übertreibung in die eine oder andere Richtung gefährdet. Weil Buß das wusste, setzte er auf Ausgleich. Damit kann man ihn auch als einen Vorläufer der sozialen Marktwirtschaft verstehen.
Ludwig Erhard verstand die soziale Marktwirtschaft übrigens als eine moralisch begründete Ordnung, die auf Wertorientierung der Menschen angewiesen sei. Wobei der Nestor der katholischen Soziallehre Oswald Nell-Breuning die Einsicht hinzufügte, dass die soziale Marktwirtschaft auch deshalb dem Menschen besonders gemäß sei, weil sie ihn moralisch wiederum nicht überfordere, indem sie Solidarität mit Eigennutz verbinde. Schließlich sei auch Moral ein knappes Gut.
Ritter von Buß setzte auf die Kräfte, die in Persönlichkeitsbildung, Wertorientierung und religiöser Bindung gründen. Immer ging es ihm um die Menschen in ihrer realen Lage.
Fortschritt mit menschlichem Gesicht
Er war kein Maschinenstürmer, und er wollte sich der Modernisierung nicht entgegenstellen, sondern er wollte sie gestalten und die mit ihr verbundenen nachteiligen Auswirkungen bekämpfen. „Fortschritt mit menschlichem Gesicht“, würden wir das in der Sprache unserer politischen Kommunikation heute vielleicht nennen.
So hatte er auch begriffen, dass die technische Entwicklung größere Wirtschaftsräume schaffen würde, und deshalb war er schon damals für europäische Einigung, auch grenzüberschreitende Zusammenarbeit am Oberrhein, deutsch-französische Partnerschaft.
Treue zur Heimat, Patriotismus und europäische Offenheit verbanden sich bei ihm genauso wie wirtschaftliche Effizienz und sozialer Ausgleich und überkonfessionelle Zusammenarbeit politisch engagierter Christen. Eine ganze Menge für den Sohn eines Schneiders aus der kleinen freien Reichsstadt Zell am Harmersbach.
Die Stadt hat Grund, auf ihren großen Sohn stolz zu sein, und wir alle können aus seinem Erbe eine Menge lernen, auch für die Bewältigung unserer Aufgaben am Beginn des 21. Jahrhunderts.
Quellen
Heisch Josef, Franz Joseph Buß und seine Heimatstadt Zell am Harmersbach / [Zwischentexte: Josef Heisch und Marlis Heisch] Zell a.H. : Heisch, 2005, vergriffen; ausleihbar in der Badischen Landesbibliothek unter der Signatur 106B 50082 Rede von Wolfgang Schäuble , S.419-424.
Franz Joseph Buß: Die Fabrikrede von Franz Joseph Buß vom 25. April 1837. Text und Kontext einer historischen Rede. Hg. v. Historischer Verein Zell am Harmersbach e.V. . Einleitung von Dr. Heinrich Schwendemann. Redaktion Bertram Sandfuchs. Zell am Harmersbach: Schwarz wälder Post Verlag (Gestaltung, Layout und Druck) 2023. ISBN 978-3-9821302-3-1
Die Fabrikrede ist in der Tourist-Information Zell am Harmersbach, Hauptstr.19, 77736 Zell a. H. und im Industriedenkmal Rundofen zu den Öffnungszeiten kostenlos erhältlich.