Es gibt sie wirklich, diese Allerwelts-Aschenputtel, die aus dem Elends- und Vorstadtmief aufsteigen zu Ruhm und Reichtum. Marilyn Monroe war so eine, vielleicht auch Maria Callas, die Talk-Show-Königin Oprah Winfrey sicherlich und Pop-Superstar Madonna sowieso. Edith Piaf aber, Ikone und Tragödin des Chansons sticht sie mit ihrer Vita und Karriere alle aus.
Dr. Jens Rosteck, promovierter Musik- und Literaturwissenschaftler, präsentierte dazu am Freitagabend im Kulturzentrum eine Multimedia-Show und veredelte Vortrag und Lesung mit ausgewählten Chanson-Melodien am Klavier. Damit feiere der Lions Club Zell a.H. zugleich sein 20-jähriges Bestehen, wie Präsidentin Bärbel Winkler bei der Begrüßung der Gäste betonte.
Nach der zweijährigen pandemiebedingten Zwangspause genoss es Rosteck sichtlich, wieder vor einem Publikum aufzutreten. Nachdem er die Melodie am Flügel gespielt hatte, ließ Rosteck die Stimme der Piaf von einer CD erklingen: »Les mots d’amour« – begleitet von einer über die Großleinwand laufenden Bilderfolge mit Impressionen aus Paris, gleichsam ein Frühlingsspaziergang zu jenen Plätzen und Straßen, Clubs und Bars, die mit dem Phänomen ‚Piaf‘ zu tun haben. Die »Besessene«, die sich mit ihrer charismatischen Stimme und Bühnenpräsenz ins »kollektive Gedächtnis« eingebrannt habe, so Jens Rosteck, war auf eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Aufnahmen zu sehen. Eine schillernde Künstlerin sei sie gewesen, salopp gesprochen ein »Stehaufweibchen«, das mit viel Ehrgeiz unter härtesten Entbehrungen von der Straßensängerin zum Weltstar aufstieg und in ihrer Widersprüchlichkeit doch ein Rätsel blieb bis zu ihrem tragischen Tod mit nur 47 Jahren in Paris am 11. Oktober 1963.
Von Empathie getragen
Wie nähert man sich einer Chanson-Legende, ohne selbst der Heiligenverehrung anheim zu fallen? Rosteck hat eine große Piaf-Biografie verfasst (»E.P.-Hymne an das Leben«), die mittlerweile als Standardwerk gilt: akribisch recherchiert, präzise und detailreich, ohne vorschnelles Urteil oder gar Effekthascherei und doch von Empathie getragen. Gewiss nicht einfach bei einer Künstlerin, bei der sich Mythos und Wirklichkeit kaum voneinander trennen lassen. Man muss sich allerdings auf Rostecks prosaische Sprache einlassen, die einem nach und nach in den Bann zu ziehen vermag. Das fiel einigen Gästen im Saal offenbar schwer, was auch durch die zunächst nicht optimal eingestellte Mikrofonanlage bedingt war.
Rosteck, der mehrere Jahrzehnte in Frankreich gelebt hat, las aus einem Kapitel über die Kindheit der Protagonistin. Edith Giovanna Gassion wird am 19. Dezember 1915 als Tochter eines Wanderakrobaten und einer Straßensängerin geboren (den Künstlernamen »Piaf«- umgangssprachlich für »Spatz«- erhält sie erst in den 1930er- Jahren anlässlich eines Engagements). Das kränkliche Kind verbringt die ersten Jahre bei den Großeltern im tristen Pariser Vorort Belleville. Da die Großmutter Alkoholikerin ist, wird Edith in die Obhut der Tante in der Provinz gegeben. Nicht der beste Ort für ein Kind, das behütet und beschützt werden möchte, urteilte Rosteck, denn die Tante betreibt in dem Normandie-Städtchen Bernay ein Bordell. Dennoch kümmert man sich dort um die Kleine. Als sie in die Vorschule kommt, wird sie jedoch gehänselt und ausgegrenzt.
Eine Seelenverwandte gefunden
Die Schilderungen, bei denen Rosteck Aussagen der Piaf mit eigenen Erkenntnissen in Beziehungen setzt, zeichnen ein treffendes Bild und fördern bisher wenig Bekanntes zu Tage. Dass sich Edith Piaf ihrer Aura als »Heilsbringerin« bewusst war, vermutet Rosteck in einem besonderen Ereignis, das sich in dem Wallfahrtsort Lisieux abspielte. Dort wird bis heute die heilige Thérèse verehrt, der die Gläubigen Gebetserhörungen zuschreiben. Das soll auch der kleinen Edith widerfahren sein, nachdem sie an einem Augenleiden erkrankte und fast erblindete. Eine Wallfahrt nach Lisieux lässt das Kind genesen. Zeitlebens glaubt die Piaf in der Hl. Thérèse eine Seelenverwandte gefunden zu haben, die sie auch vor Konzerten um Beistand anruft.
Mehrfach machte Rosteck deutlich, dass die enorme Wirkung einer Piafschen Performance auf der Bühne nicht nur Musikfans im Allgemeinen und Chanson-Liebhaber im Besonderen in die Konzertsäle lockte, sondern viele Menschen, die von der unvergleichlichen Stimme etwas wie »Erlösung« erhofften. Ähnliches wird auch von Maria Callas berichtet, die vielerorts auch Jahre nach ihrem Tod geradezu kultisch verehrt wird.
Ein weiterer Wendepunkt im Leben des Mädchens Edith tritt ein, als der Vater – wohl auf Betreiben des Pfarrers von Bernay – die Tochter aus dem Rotlicht-Etablissement »befreit«. Es beginnt ein jahrelanges Wanderleben mit dem Artistenvater, geprägt von Hunger und Alkohol. Aber es sind auch Lehrjahre für das junge Talent, das sich singend und schauspielernd entfaltet. Eine Kindfrau, die lernt, wie man ein Publikum begeistern kann, selbst wenn es nur aus wenigen Menschen auf einem Dorfplatz besteht.
Bis zum Starruhm sollten allerdings noch viele Jahre vergehen, nachdem die 15-Jährige den Vater verlassen hatte und sich als Straßensängerin im zwielichtigen Milieu des Montmartre durchschlug. – »Unter dem Himmel von Paris« – nichts hätte an dieser Stelle der Lesung besser gepasst als diese Chanson-Melodie, die Jens Rosteck am Piano gefühlvoll intonierte.
Musikalisches und künstlerisches Testament
Nach der Pause beleuchtete Rosteck mit der »Hymne an die Liebe« Klavier spielend und daran anschließend mit Bildern und Texten die ambivalenten Beziehungen der zu Weltruhm gekommenen Künstlerin. Allein die Namen etlicher Film- und Showgrößen liefern Stoff genug für Klatsch und Tratsch in den Medien. Manchem verhalf die Piaf zu einer eigenen Karriere, wie etwa Yves Montand in den 1940er-Jahren oder später Charles Aznavour, der für sie Chansontexte schrieb und sich in seiner Autobiografie erinnert: »Ich war ihr Komponist, ihr Textdichter, ihr Sekretär, ihr Beichtvater, Laufbursche und Liebhaber«.
Obwohl sie nicht selbst komponierte, machte sie durch ihre betörend kraftvolle und Timbre reiche Stimme jedes Chanson zu etwas Eigenem, zu Hymnen für die Ewigkeit: »La vie en rose«, »Milord«, »Non, je ne regrette rien« und andere.
Als letztes Hörbeispiel wählte Rosteck »Mon Dieu« – das »musikalische und künstlerische Testament« der Piaf und ein »Stoßgebet gen Himmel«, wie er es nannte. Dazu war die zierliche Frau auf einem großen Bild zu sehen, ganz so, wie sie ein Zeitgenosse einmal beschrieben hatte: »Sie trägt Schwarz, die Farbe der Trauer, ihr Gesicht ist leichenblass …«. Wahrscheinlich eine Folge der Drogen, von denen die Sängerin nie weg gekommen ist. Kräftezehrende Konzerttourneen und Gastspiele schädigten ihre Gesundheit nachhaltig. Jens Rosteck zitiert eine Schlagzeile, die nach Edith Piafs Tod schlicht lautete: »In Paris fehlt jemand …«.
Viel Lob für seine musikalische Lesung erhielt Jens Rosteck von Lions – Präsidentin Winkler und das Publikum verabschiedete den Piaf-Biografen mit herzlichem Beifall. Bärbel Winkler dankte abschließend den Helferinnen und Helfern, die den Multimedia-Abend mit ermöglicht hatten.