Seitenwechsel – Eine Geschichte von Gottfried Zurbrügg

Gottfried Zurbrügg ist pensionierter Lehrer, Buchautor – und Prädikant. Er liebt das Leben und die Menschen, beobachtet genau und macht sich seine Gedanken. Die teilt er gerne mit den Lesern der »Schwarzwälder Post«. Er schreibt …

Heute habe ich endlich einmal Zeit, in der Sonne zu sitzen und meine Stadt zu genießen. Meine Frau hat einen Arztbesuch und wir haben uns in der »Westlichen« verabredet, gerade gegenüber einer bekannten Buchhandlung. Dort sind Bänke aufgestellt und ich kann dort sitzen, dem Strom der Menschen zusehen oder ganz einfach lesen.

Als ich an dem Tag auf meiner Lieblingsbank Platz nehmen will, sehe ich, wie ein Straßenmaler eine große Plane ausrollt und auf der Straße befestigt. Auf der Plane sind die Flaggen aller europäischen Staaten abgebildet. Das war sicher viel Arbeit. Nun beginnt er die Unterschriften zu korrigieren, abzuwischen und neu zu schreiben. Die Menschen weichen seiner riesigen Schreibtafel aus und gehen vorbei. Er scheint sich nicht daran zu stören, sondern arbeitet mit einem Lappen, so wie ich immer die Tafel im Klassenzimmer abgewischt habe. Jeden Tag hat der Morgen so begonnen. Das war eine schöne Zeit, die leider lange her ist. Ich stehe auf und gehe zu ihm. Er sieht, dass ich mich für sein Gemälde interessiere und schaut von seiner Arbeit auf.

Braune Augen sehen mich an und der struppige Mund mit dem Dreitagebart lächelt. »Woher kommen Sie?«, frage ich und hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Was für eine dumme Frage! Wahrscheinlich würde er antworten: »Ich bin Deutscher, in München geboren.« Und dann noch einen typischen Akzent haben oder gar badisch babble. Ich mache den Fehler immer wieder, als ob nur Blonde und Blauäugige Deutsche wären… Wie blauäugig, wo unser Land doch wirklich ein Multikultiland geworden ist und die meisten einen Migrationshintergrund haben. Ich doch auch: Großvater aus der Schweiz oder aus Polen, die anderen Großeltern aus Italien und aus dem Spreewald.

Er antwortet gelassen: »Ich komme aus Rumänien.« Man merkt, dass ihm die deutsche Sprache noch ein bisschen schwerfällt. »Rumänien gehört in die EU«, möchte ich sagen und mag es doch nicht, denn das würde wie eine Entschuldigung klingen und nicht angemessen sein.
»Ihre Arbeit erinnert mich an meine Zeit als Lehrer«, sage ich stattdessen. »So habe ich auch die Tafel im Geographieunterricht bemalt und genauso die Tafel mit einem Lappen abgewischt. Da würde ich gerne mitmachen.«

»Sie wollen was?«

»Einmal Straßenmaler sein statt Geographielehrer!«, antworte ich mutig. »Straßenmaler war ich noch nie und hatte nie eine so große Tafel!«

Der Gesichtsausdruck ist ähnlich wie bei manchen Schulkindern – verständnislos…

Immerhin steht er auf und spricht mit seiner Frau. Sie trägt das typische Kopftuch und spricht wesentlich besser Deutsch als ihr Mann.

»Das geht leider nicht«, erklärt sie mir. »Deutsche Gesetze lassen das nicht zu. Wir waren auf dem Amt und haben die Genehmigung geholt, hier arbeiten zu können. Nur mein Mann hat die Erlaubnis als Straßenkünstler zu arbeiten. Ich darf ihm auch nicht helfen.«

»Darf man nicht?« Diesmal habe ich den Schülergesichtsausdruck – verständnislos.

»Nein, das ist nicht erlaubt. Nur er darf arbeiten. Aber danke. Wenn Sie auf der Bank sitzen und zuschauen, wird das vielleicht manchen veranlassen auch stehen zu bleiben.«

»Die Spende legt man in das Feld mit der eigenen Flagge«, sagt der Straßenkünstler zu jemandem und eine Münze fällt auf die französische Flagge.

»Dann werde ich das tun und wir werden virtuell die Rollen tauschen«, schlage ich vor.

»Virtuell?«, fragt er, »so mit Handy?«

»Nein, ohne Handy. Wir tauschen den Blickwinkel. Sie malen und sind ich, ich sitze hier und bin Sie.«

Wieder dieses herrlich verständnislose Gesicht!

Aber ich setze mich einfach hin und merke, wie der Rollentausch gelingt. Ich bin vor der Straßentafel und wische die Schrift aus. Aus der Bodenperspektive sehe ich die vielen Füße vorbeihasten, höre die klappernden Absätze auf dem Boden und spüre, wie sehr die Straße doch Lebensraum ist. Straße – das ist nicht einfach nur Pflaster. Das ist Lebensraum, das ist etwas Lebendiges. Wir brauchen als Bürger diese Straßenkünstler, die unsere Straßen beleben. Irgendwo nebenan beginnt ein Mann mit einem Akkordeon zu spielen. Die Häuserwände, die Marmorplatten… alles nimmt den Schall auf und belebt die Straße zu einem herrlichen Theaterstück. Ein Paar Füße bleiben stehen. Mit Staunen höre ich, wie der Rumäne akzentfrei erklärt, wo man die Münze hinlegt. Sie klappert auf das Tafelgummi, rollte eine Stück und bleibt in Deutschland liegen. Ich bedanke mich und wundere mich, wie schwer mir die deutschen Laute fallen. Der Rollentausch ist virtuell perfekt gelungen. Nachdenklich greife ich mir ans Kinn und spüre den Dreitagebart. Ob mich meine Frau noch wiedererkennt, wenn ich so sehr Straßenmaler geworden bin?

Ich wische und schreibe, lausche auf die vielen Füße und werde eins mit dem Pflaster. Ich und die Straße, meine Straße sind eins.

»Möchtest du ein Eis?«

Die Stimme kenne ich. Das bietet nur meine Frau mir an. Sie weiß, dass ich mir auf ärztlichen Rat eine Kugel Eis am Tag leisten kann.

»Gerne«, stammle ich. Sie schaut erstaunt.

»Der Straßenmaler und ich haben virtuell die Perspektive getauscht«, versuche ich zu erklären, aber meine Stimme hat so einen rumänischen Akzent.

»Ich bin schuld«, sagt der Straßenmaler mit einwandfreiem Deutsch, meine Stimme (!), er wollte meine Aufgabe übernehmen, aber das geht gesetzlich nicht, so haben wir virtuell getauscht.« Er stottert und spricht wieder mit Akzent. Was bin ich froh!

Ich erhebe mich und nehme meine Frau in den Arm. »Ich bin wieder da«, sage ich mit meiner eigenen Stimme.

»Du machst Sachen«, lacht sie. »Kann man dich wirklich allein lassen. Wie war es denn?«

»Wir brauchen die Straßenkünstler«, sage ich laut. »Nur so lebt unsere Straße und ist kein seelenloses Pflaster.«

Ich staune nicht wenig, als ich höre, wie der Maler, der Musiker und die Passanten Beifall klatschen. Münzen klingen auf der Straße und im Akkordeonkoffer des Musikers.

Natürlich werfe ich auch eine Münze in seinen Kasten und ein Danke in sein Ohr.

»Manchmal muss man einfach die Perspektive wechseln«, sage ich zu meiner Frau und gehe gerne mit zur Eisdiele.