Einen Marathon (42 Kilometer immerhin) bezeichnet Bernd Kuderer tatsächlich als »kurze« Strecke. Denn er ist einer, der 170 Wettkampf-Kilometer an einem Stück bewältigt – samt 10.000 Höhenmetern. In gerade einmal 34 Stunden.
»Die Montblanc-Ultratrail-Strecke gilt als der Weltgipfel der Berg-Ultras«, erzählt Bernd Kuderer. Doch man muss sehr genau hinhören, um den sehr leisen, sehr bescheidenen Stolz aus der Stimme des 51-Jährigen herauszuhören. Denn: Bei der 170-Kilometer-Strecke handelt es sich um eine Umrundung des alpinen Montblanc-Massivs, die normalerweise einen Fernwanderweg darstellt und von Wanderern in 10 bis 14 Tagen absolviert wird. Ein an sich bereits sportliches Unterfangen angesichts von 10.000 Höhenmetern, die bezwungen werden wollen.
Ein Ultraläufer aber versucht, diese Strecke nonstop durchzulaufen. Ohne Schlaf also. Und zwar so schnell wie möglich, das heißt – mit Ausnahme besonders steiler Strecken – rennend beziehungsweise joggend: Der Veranstalter gibt strenge Zeitlimits vor, innerhalb derer bestimmte Kontrollpunkte passiert worden sein müssen. Andernfalls wird man aus dem Rennen genommen. Selbiges gilt es im Übrigen mit einem speziellen Laufrucksack auf dem Rücken zu bewältigen. Der ist mit einer Pflichtausrüstung gefüllt und wiegt Dank literweise Trinkwasser, warmer Kleidung, Erste-Hilfe-Material, Ersatz-Stirnlampe, Powersnacks und Mineralstofftabletten einiges. Vier bis fünf Kilo nämlich. »Der Montblanc-Ultralauf ist eine riesige Veranstaltung, bei der auch Profis mitlaufen«, erklärt Bernd Kuderer. Eine Platzierung im vorderen Feld zu erreichen sei daher unheimlich schwierig. »Da ist das vorrangige Ziel, in einer gewissen Zeit, die man sich setzt, ins Ziel zu kommen.« Als ein sogenannter Finisher.
Vor zwei Jahren hat sich der Hobby-Sportler diese Leistung abgerungen: »Dieser Lauf war für mich das bislang Größte.« Als gleichwertig aber betrachtet er den Alpen-X100-Ultratrail im vergangenen August. »Der war sogar noch schwieriger«, weshalb er für die 160 Kilometer mit jeweils ca. 10.000 Höhenmetern Auf- und Abstieg gar knappe 37 Stunden benötigte. Und in seiner Altersklasse dritter wurde – wie auch beim diesjährigen Zugspitz-Trail. Was für den Laien unvorstellbar ist – die enorme Anstrengung in Verbindung mit dem Schlafentzug – das geht nach Bernd Kuderers Worten »eigentlich ganz gut.« Wobei sich das Wachbleiben von selbst ergebe, weil man immer in Bewegung und die – vom Veranstalter markierte – Strecke nie langweilig sei.
Die Konzentration halten
»Es geht ja ständig irgendwie links, rechts, bergauf, bergrunter«, erklärt der vierfache Familienvater, der inzwischen Opa geworden ist. »Man muss sich ständig den Weg suchen: Wo kann man auftreten, wo ist ein Stein, wo ist vielleicht irgendwas rutschig. Das macht das Laufen technisch anspruchsvoll und deshalb interessant und abwechslungsreich«. Denn im Unterschied zum klassischen Berglauf, der meist auf festen Wegen oder breiten Forstwegen stattfindet, geht es beim Ultra-Trail in einem unablässigen Auf und Ab so weit wie möglich über schmale Pfade und Gebirgspfade. »Es geht also nicht nur ums schnelle, sondern auch ums technische Laufen«, erklärt der Laufbegeisterte.
Hinzu kommt das nächtliche Laufen mit Stirnlampe. »Wenn der Lauf wie beim Alpen-X abends um 10 Uhr anfängt, dann muss man in der zweiten Nacht aufpassen, dass man noch die nötige Konzentration hat, um auch an technisch schwierigen Stellen noch sicher zu laufen, ohne sich den Fuß zu vertreten oder vom Weg abzukommen.« Daher sei es bei ihm während eines Ultra-Trails auch noch nie zum Sekundenschlaf gekommen, meint der Sportler, »weil man ständig gefordert ist.« Für den Fall, dass man irgendwo einmal vom Weg abkommt, werden die Läufer mit Kartenmaterial versorgt, mit einem »road book«. Und für GPS-Uhren kann man sich die Strecke in Form von Daten-Files herunterladen, um im Notfall mit der Uhr navigieren zu können.
Wider den Tiefpunkt
Dass jeder mal bei einem solchen Extrem-Lauf an den Punkt komme, wo er sich frage, »was bringt das denn alles«, gesteht Bernd Kuderer. »Aber dann sagt man sich: Ich hab’s mir vorgenommen, ich hab darauf trainiert und ich möchte es durchziehen.« Auch die Vorstellung, wie toll es ist, wenn man ins Ziel einläuft, helfe bei einem derartigen Tief. Die Vorstellung, wie man sich hinterher fühlt: Wenn man es geschafft hat, wenn man stolz auf sich sein darf. »Meistens, wenn’s einem schlecht gegangen ist, dann geht’s ’ne halbe Stunde später plötzlich wieder gut, selbst nach 25 oder 30 Stunden, und man wundert sich und sagt hoppla«, lacht der große schmale Mann sein leises Lachen, und outet sich als Naturmensch, den die Schönheit der Alpenlandschaft motiviert. Ebenso wie die Herausforderung, etwas für sich selber zu erreichen, »was nicht jeder grad so machen kann.«
Dafür trainiert er, indem er täglich die Laufschuhe anzieht, sommers wie winters. Für »bloß« ein bis zwei Stunden nach Feierabend, am Wochenende sind dann die längeren Trainingsstrecken dran. Oder der Maschinenbautechniker fährt – zumindest im Sommerhalbjahr – mit dem Rad über den Schönberg zur Arbeit nach Schwanau. Und zur Abwechslung darf es auch mal ein kurzer, schneller Wettkampf sein – wie neulich in den Vogesen: eine Stunde »mit Vollgas« bergauf und bergab, 13 Kilometer, »das macht dann auch wieder riesig Spaß.«
Die Heilkunstder Ehefrau
Nach den 40- bis 50-Kilometerwettkämpfen habe er sich relativ schnell wieder erholt, meint Bernd Kuderer. Da brauche er nur etwa eine Woche, bis er merke, dass die Muskulatur wieder normal arbeitet. Nach einem 100- oder 160-Kilometerlauf hingegen »dauert es schon vier Wochen, bis man wieder intensiv laufen und trainieren kann.«
Dass sein Körper die Strapazen so gut mitmacht, ist zu einem großen Teil auch der Gattin des Ultraläufers zu verdanken. »Ich habe das Glück, dass meine Frau seit ein paar Jahren Heilpraktikerin ist«, sagt er mit großer Dankbarkeit. »Da werde ich halt immer versorgt, das kann man als Senior gut gebrauchen«, lacht er, »gerade im Rückenbereich oder wenn in der Muskulatur irgendwelche Verhärtungen sind. Da kann mir meine Frau mit Akupunktur und Triggerpunktmassage und so weiter relativ gut helfen.«
Auch während der großen Wettkämpfe ist sie stets treu an der Seite ihres extrem sportlichen Gemahls. Dann steht sie an vorher ausgemachten Versorgungspunkten bereit und wartet schließlich am Ziel auf ihn.


