Auf Holzböcken werden Bretter verschraubt, mit einem grünen Tuch verkleidet, und schon ist der Unterbau fertig. Dann aber geht es los: das große Suchen in der Maria-Hilf-Kapelle im Oberharmersbacher Zuwälder Tal.






Prüfend lässt Thomas Lehmann seinen Blick über die teils mächtigen Wurzelstücke schweifen, die – sorgsam ausgebreitet – den gesamten Boden des Altarraums einnehmen. »Das sind über 100 Wurzeln«, weiß der 55-Jährige, der hier hinten in der Abgelegenheit der landschaftlichen Idylle aufgewachsen ist.
Als Kind hielt er sich fast jeden zweiten Tag im nahegelegenen Schwesternheim bei den Nonnen und dem Pater auf, »die hatten Schweine und so weiter.« Hier half er, erhielt zum Dank Süßigkeiten. Jener Pater Edwin auch war es, der anno 1973 den Bau der außergewöhnlichen Krippe anstieß. Als damals acht- oder neunjähriger Bub, der zudem als Ministrant in der Kapelle diente, ging Thomas Lehmann übers Jahr mit dem Geistlichen im Wald auf Wurzelsuche.
»Und dann vor Weihnachten haben wir bestimmt drei bis vier Wochen lang immer mal wieder an dieser Krippe gearbeitet. Ich war der Handlanger«, lacht er, »und der Pater hat die Wurzeln irgendwie zu einer Krippe zusammengefügt.« Wie fortan nun jedes Jahr.
»Eines Tages, als wir mal wieder am Aufbauen waren, da sagte der Pater: Thomas, pass’ auf, nächstes Jahr musst du das alleine machen, und so war’s dann auch«, denn nur vier Monate später verstarb der Betagte, wie Thomas Lehmann erzählt.
Der Schweiß lief nur so runter
Als er die Krippe das erste Mal alleine zusammenbaute, mit wohl zwölf oder 13 Jahren, herrschten fünf Grad Kälte in der Kapelle, »aber mir lief der Schweiß nur so runter: Ich brauchte alleine drei Stunden, bis die ersten beiden Wurzeln endlich zusammenpassten, ich kann mich noch ganz gut daran erinnern«, schmunzelt er, und auch danach habe er teils zehn und mehr Wurzeln ausprobieren müssen, bis wieder mal etwas zusammenpasste. »Mit der Zeit kriegt man einen Blick für das, was zusammenpasst – aber am Anfang war’s sehr schwer.«
Ein riesiges Puzzle also gilt es jedes Jahr aufs Neue zusammenzufügen, und jedes Jahr gestaltet sich dies anders. Wobei nicht immer alle der bizarr geformten Holzstücke zum Einsatz kommen. »Das ergibt sich daraus, wie sie gerade zusammenpassen«, erläutert der schon immer von Holz Faszinierte. »Diese Wurzel zum Beispiel«, zeigt er auf ein großes, zig Kilo schweres Stück, »die habe ich bis jetzt jedes Jahr verwendet, aber diesmal hat sie komischerweise nirgendwohin gepasst.«
Glücks- und Zufallsfunde
Des sicheren Haltes wegen müssen die Wurzeln zumindest am Rand der Unterlage verschraubt werden. Thomas Lehmann lacht: »Die Schrauben muss man beim Abbauen dann wieder finden«. Früher jedoch, bevor Schrauben zum Einsatz kamen, war die Kleinarbeit eine noch viel mühsamere. Denn da erfolgte die Befestigung mithilfe von Draht und Dachpappennägeln sowie einem hohen Maß an Geduld – schließlich sind die Wurzeln teilweise steinhart.
»Die sind uralt«, verdeutlicht der Krippenbauer und erzählt, dass die von ihm so hoch begehrten Bauteile aus einem Eichwald stammen. »Wenn die Bäume dort umgesägt werden, ist noch Saft in den Wurzeln und sie wachsen weiter, bis sie erst irgendwann später absterben.« Mindestens ein halbes Jahrhundert dauere es daher, bis man eine solche Eichenwurzel aus dem Boden bringen könne. »Die muss richtig abgestorben und von unten her teils schon verfault sein, damit man sie rauskriegt.« Mit dem Ergebnis, dass die Wurzeln, wie Thomas Lehmann sie für seine Zwecke benötigt, relativ selten und oftmals nur mit Glück oder per Zufall zu finden sind.
Doch langlebige Eiche hin oder her – im Laufe der Zeit gehen immer mal wieder Wurzeln aus Lehmanns Vorrat kaputt. Fallen auseinander. Segnen das Zeitliche. Der berufliche Alltag lässt dem Zimmerermeister mit Zusatzausbildung zum Restaurator im Zimmererhandwerk allerdings keine Zeit, sich auf die Suche nach Nachschub zu machen. Dafür sorgt der eigene Betrieb, der sich – übrigens – in einem Gebäude befindet, das bis 1914 die Schule im Zuwälder Tal beherbergte und später sein Elternhaus wurde.
Die Kirchentür ist zu klein
Mangels »neuer« Wurzeln also wird die Krippe zu Thomas Lehmanns Leidwesen allmählich kürzer, wenngleich sie noch immer stolze drei Meter in der Länge und nahezu zwei Meter in der Tiefe misst. Maße, die einiges an körperlichem Einsatz erfordern.
Auch seiner Mutter war die Krippe stets wichtig. Nicht nur als ebenfalls ehemaliger Messnerin in der Maria-Hilf-Kapelle, sondern vor einem zusätzlichen familiengeschichtlichen Hintergrund. Denn Thomas Lehmanns Vater stammte vom weiter vorn im Tal liegenden Bläsihof, dessen Vorfahren – wie in der Ortschronik zu lesen – dereinst die kleine Kirche errichteten. Um ein Gelübde zu erfüllen.
Die ersten 10 bis 15 Jahre baute Thomas Lehmann die Krippe von Mal zu Mal »komplett neu zusammen«, volle drei Arbeitstage nahm das jeweils in Anspruch. Dann aber schraubte er zumindest die (im Übrigen stimmungsvoll beleuchtete) Höhle, in der die Heilige Familie Schutz findet, als komplettes Element fest ineinander. Noch besser wäre es, gesteht der Mann mit der besonderen Liebe zu Altholz, wenn man die Krippe auf Dauer komplett aufgebaut lassen und im Ganzen transportieren könnte, doch das lässt die Türöffnung der Kapelle nicht zu: Die ist schlichtweg zu klein.
Heutzutage ist er fünf bis sechs Stunden mit dem jährlichen Krippenaufbau beschäftigt –dank Schrauben und Akkubohrer. Und vor allem dank weiterer helfender Hände. Die gehören zum einem dem dreißigjährigen Zimmerermeister Patrick – eines seiner drei Kinder. Zum anderen sind es die Hände von Thomas Lehmanns Ehefrau Cornelia. Jahr für Jahr legt die Vorsitzende des Historischen Ortsvereins sowie des Sozialen Netzwerks die Krippe mit Moos aus. Zunächst mit teils jahrzehntealtem, trockenem, zum Abschluss dann mit einer Schicht aus frischem Moos. Zudem gilt es, die Schraubenköpfe in den Wurzelstücken mit Moos zu verdecken.
Gemeinschaftswerk
Schließlich ist der Feinschliff an der Reihe: Das Ganze wird mit Efeuranken sowie mit immergrünen Zweigspitzen geschmückt, die wie Bäumchen und Gebüsch in einer Wurzellandschaft wirken, über der ein ehrwürdiger Engel schwebt. Dann endlich können die vielen Krippenfiguren einziehen. Ein von dem inzwischen verstorbenen ortsansässigen Kunstmaler Berthold Roth gefertigtes Hintergrundgemälde vervollständigt das opulente Werk.
Dessen beeindruckende Wirkung wird unterstützt von stets zwei bis drei weit über mannshohen Tannen. Diese spendet grundsätzlich der nahegelegene Gallushof, der unterm Jahr zudem sämtliche Krippenbestandteile einlagert, An- und Abtransport inklusive. Was darauf gründet, dass der Opa des heutigen Gallusbauern Manfred Lehmann ebenfalls als Messner in der Kapelle gedient und später den Beruf des Pfarrers ergriffen hatte.
Noch bis Mariä Lichtmess am zweiten Februar kann das Kunstwerk in der Zuwälder Maria-Hilf-Kapelle bestaunt werden. Ob der Krippenauf- und dann ja auch wieder -abbau nicht ab und an zur lästigen Pflicht ausartet? »Die Krippe macht einfach Spaß«, widerspricht das Ehepaar Thomas und Cornelia Lehmann unisono, »uns würde was fehlen, wenn wir’s nicht mehr machen würden, das gehört einfach zur Tradition.« Das ruhige Strahlen in den Augen der beiden spricht für sich.
Und mehr noch: Thomas Lehmann hegt Zukunftsvisionen in Bezug auf die Krippe. »Ich träume schon immer von einer kleinen Stadt im Hintergrund«, schmunzelt er.