Am 1. April 1998 übernahm Roland Brucher als Fahrer den Unimog der Gemeinde. Im vergangenen Jahr musste er aus gesundheitlichen Gründen diese Aufgabe abgeben. Wegen der Corona-Pandemie folgte erst jetzt die offizielle Verabschiedung.
Wer glaubte, dass bei Roland Brucher in der Garage nur ein Auto und Fahrräder stehen, irrt sich gewaltig. Auf einem Bord in Brusthöhe reiht sich Fahrzeug an Fahrzeug, insgesamt 90 Miniaturen, die alle im Leben von Roland auf die eine oder andere Weise eine Rolle gespielt haben. Feuerwehrfahrzeug reiht sich an Feuerwehrfahrzeug, die der ehemalige Kommandant gesammelt hat. In der vorderen Reihe allerdings stehen seine kleinen »Lieblinge«: verschiedene Modelle von Unimogs im Maßstab 1:87, eines niedlicher als das andere.
Wo Roland während seiner Arbeitszeit in den letzten 21 Jahre war, war auch meist der Unimog der Gemeinde, den er in seinen 21 Berufsjahren sicher auf allen Straßen und Wegen der Gemeinde lenkte. In den Sommermonaten mag das so nicht aufgefallen sein, aber wenn die Nächte wieder deutlich kürzer wurden und der erste Frost mit den früher häufigeren Schneeflocken sich angekündigt hatte, war Roland als »Mister Schneepflug« der meist gefragte Mann in Oberharmersbach.
Geregelte Arbeitszeit oder freies Wochenende kannte er dann als Unimogfahrer nicht mehr. »Natürlich sind die heutigen Winter bis auf einige wenige Tage nicht mehr zu vergleichen mit den größeren Schneemassen in früheren Jahren« erinnert er sich an lange und manchmal aufregende Touren. Aber dennoch wurde oftmals die Nacht zum Tage.
So sah dann häufig ein »Schneeräumtag« aus: Morgens um zwei Uhr galt seine ganze Aufmerksamkeit dem Wetterbericht. Dann musste er seine Mannschaft alarmieren, die ihn beim Räumen in den Seitentälern und auf den Höhen unterstützen. Meist waren nur noch wenige Handgriffe nötig, um das Fahrzeug völlig aufzurüsten. Spätestens um vier Uhr morgens war er auf Achse.
Mit dem 3,20 Meter breiten Räumschild und einer Tonne Streugut ging es in die stockdunkle Nacht hinaus. Roland kannte seine Wege, die im Scheinwerferlicht angestrahlten Schneestangen erleichterten ihm die Orientierung. Bis der Tag graute, mussten die Wege für den Schulbus oder auf für den Einsatz von Rettungsfahrzeugen geräumt sein. Aber an allen Orten konnte er nicht gleichzeitig sein. »Oftmals sind diejenigen am einsichtigsten, die den weitesten Weg ins Dorf haben« lernte er jedes Jahr seine »Pappenheimer« aufs Neue kennen. So weiß er von einsichtigen Mitbürgern zu berichten. »Und eben auch von ›Bruddlern‹« wie er ohne nachtragende Äußerungen seine jährlich wiederkehrenden Erfahrungen schildert. In den Neubaugebieten hörte er immer zuerst den Unmut über die Schneemassen, »ausgerechnet dort, wo parkende Autos sinnvolles Räumen oftmals behinderten. Da gab es dann viele gut gemeinte Ratschläge, wo man den Schnee hinschieben kann«, weiß er aus jahrelanger Erfahrung. Doch dann war der Schnee allenfalls auf dem Grundstück des Nachbarn, aber eben nicht geräumt.
Meist war am frühen Vormittag die Ortsmitte soweit schneefrei. Wenn nicht starker Schneefall am Nachmittag immer mal wieder nochmaliges Räumen erforderlich machte, stand zum Abschluss die lange und mühsame Fahrt auf den Harmersbacher Hausberg an. »Der Rekord in einer Schneesaison lag bei 65 Touren auf den Brandenkopf« erinnert sich Roland Brucher. Und da weiß er eine Geschichte nach der anderen zu erzählen. »Einmal ist mir bei der ›Bettelfrau‹ ein Krankenwagen begegnet, der seinem Navigationsgerät zu sehr vertraute« schüttelt er heute noch den Kopf. Auf der geräumten Straße fand dieser dann sicher ins Dorf zurück »Und den hängen gebliebenen Kastenwagen eines Paketdienstes habe ich mit meinem Unimog aus dem Schnee gezogen« berichtet er von einem weiteren »Navi-Opfer«. Einmal hat es ihn beim Räumen einer Ausweichbucht auch erwischt. »Da musste mich ein Schlepper befreien« gibt er unumwunden zu.
Ausgerechnet in seinem letzten Berufswinter hielt ihn eine dieser Touren auf den Brandenkopf am längsten auf. Nicht unbedingt wegen des Schnees, sondern wegen umgestürzter Bäume. Da allein halfen auch die 177 PS seines treuen Begleiters nicht mehr. Die Kettensäge musste ran. Und während er dann mühsam bergwärts fuhr, die Straße dabei von umgestürzten mittelgroßen Fichten und Lärchen befreite, war auf der Rückfahrt dieselbe Arbeit angesagt, um die Fahrbahn schließlich auf einer Breite von vier Meter zu räumen. Und als dann auch noch ein Kleinbus auf seinem Ausflug zum Aussichtsturm in der winterlichen Landschaft wegen einer abgebrochenen Tanne stecken blieb, nahm Roland den abgebrochenen Wipfel an den Haken und schleppte ihn zum nächsten Parkplatz.
Wofür normalerweise drei Stunden ausreichten, band ihn diese Tour im Januar 2019 einige Stunden länger. »Wenn solche Ereignisse dazu kommen, dauert der Arbeitstag mitunter auch mal 16 Stunden« zählt Roland extreme Belastungen auf, bis am Abend das Fahrzeug gereinigt, betankt und für den nächsten Einsatz aufgerüstet ist. Und so hat er an solchen Tagen jeweils rund 100 Kilometer Straßen und Wege geräumt.
Vor Jahresfrist musste sich Roland von seinem vertrauten Gefährt gezwungenermaßen trennen. Bei seiner offiziellen Verabschiedung wurde ihm nicht nur versprochen, dass er nochmals »ganz entspannt bei einer Schneetour« zum Brandenkopf mitfahren darf. Er hat unter
anderem auch als Geschenk eine Nachbildung »seines Unimogs« bekommen, orangefarben wie das große Vorbild, originalgetreu bis ins Detail mit Räumschild und Aufbau für das Streugut. Vorsichtig, als hätte er ein rohes Ei in seinen großen Händen, setzt er die Miniatur, übrigens Unimog Nummer 17 in seine vielfältige Sammlung, an einen Ehrenplatz in dem gläsernen Schaukasten. So sieht man sich noch immer täglich.