Nach knapp zwei Stunden war es geschafft: Das Monstrum von rund einer Tonne besten Stahls hängt am Kran und schwebt zu Boden. Der Tresor, der seit der Fertigstellung des Rathauses im Winter 1902 hier seinen angestammten Platz hatte, muss jetzt zumindest vorübergehend für die Dauer der Sanierung anderswo abgestellt werden.
Der Morgen graute, als in der Ortsmitte Männer mit roten Hemden durch das Rathaus wuselten. Ausgerüstet mit Hubwagen und Kanthölzern, machten sich die Männer in roten Hemden an dem Tresor zu schaffen. Es fehlten nur noch die schwarzen Augenmasken, dann hätte ein Vergleich mit den Panzerknackern durchaus zutreffen können. Doch die Handwerker der Firma Martin Lehmann wissen es längst: mit dem Aufwand wäre in einem Tresor von Dagobert Duck mehr zu holen.
Dabei steht der Geldschrank durchaus für längst vergangene und finanzielle bessere Zeiten. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte in der Oberharmersbacher Gemeindeverwaltung ein mehr oder weniger geordnetes Chaos. Der Rat tagte noch immer in der Ratsstube im Stubenwirtshaus, Archiv und Registratur waren auf verschiedene Keller und Speicher verteilt. Und als sich die Verantwortlichen endlich ernsthaft mit dem Bau eines Rathauses befassten, schien es an Geld wahrlich nicht zu mangeln. 1899 hatte ein verheerender Sturm im Gemeindewald rund 12.000 Festmeter Holz geworfen. Mit dem Erlös aus dem Sturmholz stellte die Gemeinde Oberharmersbach aus dem Stand nicht nur 100.000 Mark für den Bau der Harmersbachtalbahn bereit, um die erforderlichen Grundstücke zu kaufen, sondern legte auch gleichzeitig rund 51.000 Mark für den Bau des Rathauses auf die Seite. So lautete das Ergebnis der Submission vom 5. Juli 1901. Solche Summen, zumal bei den damals noch ausschließlich üblichen Bargeschäften einschließlich der Lohnauszahlung, brauchten eine sichere Verwahrung. Da war ein Tresor von der Firma Weiß in Karlsruhe, ausstaffiert mit dem Großherzoglichen Wappen, gerade richtig. Der Stahlschrank steht nun auf dem Flur vor dem Fenster. Mit dem Hubwagen heben die Handwerker den Schrank an, schieben Kanthölzer seitlich nach, lassen den Schrank darauf ab, um ihn dann Zentimeter um Zentimeter mit einer neuen Lage Holz auf die nächste Kantholzhöhe zu hieven.
Der Tresor wüsste einiges zu erzählen. Er erlebte, wie die stabile Mark, Symbol des zum Industrieland aufstrebenden Kaiserreichs, durch die Folgen des Ersten Weltkrieges allmählich an Wert verlor, wie sich das Inflationskarussell immer schneller drehte und wie sich immer mehr wertloseres Papiergeld in seinem Innern stapelte. Er machte die allmähliche wirtschaftliche Erholung in den 1920er Jahren mit, war die »Sparbüchse« in den Jahren der Weltwirtschaftskrise und musste dann erneut erfahren, wie nach dem Zweiten Weltkrieg Geld wiederum seinen Wert verloren hatte, ehe solidere Zeiten mit der Deutschen Mark Einzug hielten. Doch damit war auch die beste Zeit des Tresors ziemlich vorbei. Der bargeldlose Zahlungsverkehr beraubte ihn weitgehend seiner ursprünglichen Aufgabe. Längst stand er, auch in Zeiten zunehmender Verschuldung, hier im Rechnungsamt nur noch mit Symbolwert für vergangenen Reichtum. Mehr als eine kümmerliche Barschaft war hier nie mehr eingelagert.
Der Tresor hat die Brüstungshöhe des Fensters erreicht. Jetzt ist verstärkt Muskelkraft gefragt, um den Tresor nach außen auf die Hebebühne zu schieben. Ein letzter Kraftakt, dann hängt das stählerne Ungetüm am Kran. Der Tresor harrt nun seiner weiteren Verwendung. Er wird wohl auch im umgebauten Rathaus wieder ein Plätzchen finden. Eben als Erinnerung an finanziell bessere Zeiten, denn diese dürften nach Abschluss der Sanierungsarbeiten des Oberharmersbacher Rathauses in weite Ferne gerückt sein.