„Frau Doktor, hier kommt der nächste Patient“, kündigt Tourist-Info-Mitarbeiterin Michaela Neuberger immer wieder an, mit gebotenem Respekt in der Stimme. Denn: Am vergangenen Samstag und Sonntag schlüpfte sie in die Rolle einer medizinischen Assistentin – zur Unterstützung der Puppenklinik Spechtenhauser. Diese hatte im Rahmen der Museumswochen der Ferienregion Mittlerer Schwarzwald im Nordracher Spielzeugmuseum eine Sprechstunde unter anderem für Puppenleiden aller Art eingerichtet. Zum dritten Mal nun schon.
Die „Puppendoktorin“ Doris Spechtenhauser zückt die Kamera. Denn die beiden Puppen, die vor ihr auf dem „Behandlungstisch“ im Foyer des Nordracher Puppenmuseums liegen, können nicht hier vor Ort geheilt werden, sie müssen stationär aufgenommen werden, in der Puppenklinik in Baiersbronn. Der eine Puppenkopf hat Risse und ein Loch im Mund, bei dem anderen ist ein „Klimperauge“ defekt, es schließt sich nicht mehr. Solch eine Augenreparatur ist schwierig, wie Peter Spechtenhauser zeigt: Der Kopf muss entfernt, das Auge herausgenommen, zerlegt und ein darin befindliches Gewicht gerichtet werden, das für das scheinbare Schließen des Augenlides sorgt, sobald die Puppe gekippt oder hingelegt wird.
Fotografiert wird zur Identifikation und um den Zustand der Puppe beim Eintreffen in der Klinik genau festzuhalten. „Manche Puppenbesitzer haben den anders in Erinnerung, was aber nicht unbedingt böse Absicht ist“, weiß Spechtenhausers Mann Peter. „Wenn man in der Zeitung liest, der Puppendoktor kommt, dann holt man seine alte Puppe vielleicht vom Speicher und bringt sie, schaut sie sich vielleicht nicht nochmal genau an.“
Auch in Bezug auf die Stimme seiner Puppe kann ein Besitzer sich irren. Oftmals müsse das Sprechwerk ausgetauscht werden, erklärt Spechtenhauser, auch sehr alte Puppen können ein solches besitzen. Dann aber könne es durchaus passieren, dass eine betagte Puppenmutter der festen Überzeugung ist, ihr Schatz habe zuvor stets „Mama“ gesagt, warum sie das jetzt nicht mehr tue. „Dabei hat eine 100 Jahre alte Stimme nie „Mama“ sagen können“!“, der Mann, der seit 35 Jahren Puppen und Spielzeug aller Art repariert und restauriert, lacht herzlich: „Das sind die Erinnerungen, die bei den Leuten wieder hochkommen, wenn sie ihre Puppen, mit denen sie als Kind gespielt haben, zum Puppendoktor bringen.“
Wen wundert´s, haben doch gerade Frauen nicht selten eine besondere emotionale Beziehung zu ihren Puppen. Doch auch Männer kann es treffen, wie ein älteres Ehepaar erzählt. Statt den früheren Kuschelhasen ihres Sohnes zu entsorgen, hoben sie diesen auf. Neulich jedoch, nach all den Jahrzehnten, habe der inzwischen Fünfzigjährige plötzlich nach der Fellnase gefragt. Deshalb lässt das Paar nun den aufgestickten Mund und die Hasenscharte reparieren, „dann werden wir unseren Sohn mit seinem Kuschelhasen überraschen.“
Die Sache mit den Gummibändern
Unter anderem haben die Restauratoren es mit vier Puppen zu tun, die dereinst mit viel Liebe in einem Volkshochschulkurs entstanden: Die aus Keramik bestehenden Köpfe wurden in Formen gegossen, gebrannt und bemalt. Sämtliche Körperteile sind hohl und mit Gummi bändern aneinander befestigt. Die aber sind über die Jahre ausgeleiert und hart geworden, obwohl mit den Puppen nie gespielt wurde.
Die Puppenmutter, eine Seniorin aus Eichhalden, erfährt zu ihrem Schrecken nun, dass die Reparaturen aufwändig sind. „Die ganzen Gummibänder lassen sich nicht so einfach raus- und wieder einziehen“, erklären die „Doktoren“. In jeder der Hände beispielsweise muss zunächst ein neuer „Anker“ für die durch den ganzen Körper laufenden Bänder gesetzt werden.
Dazu wird der alte, die Gummibänder haltende Kleber in vorsichtiger Kleinarbeit aus den filigranen Handgelenken herausgebohrt, eine Metallöse genau angepasst und mit frischem Kleber wieder eingefügt. Durch diese Ösen können dann die neuen Bänder eingezogen werden. Ob des Gesamtaufwands entscheidet sich die Seniorin, ihre Puppen nach und nach „heilen“ zu lassen, heute darf aus dem Quartett die Größte auf den OP-Tisch.
Die Babypuppe »Butz«
Eine dramatische Hintergrundgeschichte hat an diesem Wochenende eine männliche Babypuppe. Sie wird liebevoll Butz genannt, besteht aus Zelluloid, ist 81 Jahre alt, hat einen Hüftgelenkschaden und im Zweiten Weltkrieg einen Beschuss überlebt.
„Auf unserer Flucht damals war es meiner Mutter wichtig, dass wir die Alben mit den Fotos von meinen sechs Brüdern mitnehmen und meine Puppen samt Butz, ansonsten hatten wir lediglich eine Blechdose mit einem Löffel im Gepäck, aus der wir auf dem Schiff unsere Suppe gegessen haben“, erzählt die jetzt in Lahr wohnende Puppenbesitzerin. Aus Ostpreußen stammend, hatten sie es auf der „Hamburg“ von Danzig nach Kiel geschafft. Unterschlupf fanden sie in einem 170-Einwohner-Dorf, in dem sich zusätzlich über 1000 Flüchtlinge aufhielten.
„Es war Ende April 1945, es war noch keine Kapitulation, der Engländer schoss noch“, erinnert sich die heutige Seniorin. Eines Tages wurde ins offene Fenster geschossen, „durch das Kopfende des Bettes und den Kleiderschrank hindurch“, der Boden und die Zimmerdecke wurden getroffen. Zum Glück hielt sich niemand in dem Zimmer auf. „Aber in das Ärmchen von meinem Butz ist ein Splitter rein.“ Der blieb dort, bis der angeschlagene Arm vier Jahrzehnte später schließlich zu Bruch ging und erneuert werden musste. „Die Puppe ist seit 1941 bis heute überall mein Begleiter gewesen“, erzählt die betagte Dame.
In der dritten Generation
Aber auch junge Besucher bringen ihre Puppen zu den Doktoren – wie die beiden sechs Jahre alten Freundinnen Alisa und Johanna aus Unterentersbach. Mit einer der beiden Puppen, sie heißt Bärbel, hat die jetzt 39 Lenze zählende Mutter als Kind schon gespielt. Die andere Puppe stammt von der Oma, bereitet nun also der bereits dritten Generation Freude.
Nächstes Jahr werden die Puppendoktoren erneut nach Nordrach kommen, zu den Museumswochen Mitte August. „Der Bedarf ist auf jeden Fall da“, ist sich Michaela Neuberger angesichts der 41 Sprechstundentermine sicher, die am vergangenen Samstag und Sonntag im Puppen- und Spielzeugmuseum stattfanden.