Nordrach verliert als Luftkurort nach der Kurklinik auch sein zweites großes Standbein, das Median Haus St. Georg. Es wird Ende August 2019 geschlossen.
Das Median Haus St. Georg Nordrach, im Volksmund noch immer »Rothschild« oder »Zajak« genannt, wird zum Ende des Monats August geschlossen. Die fast einhundert Patienten wurden im Laufe der letzten Monate bereits in andere Einrichtungen im Ortenaukreis und darüber hinaus verlegt. Der Eigentümer nennt als Grund für die Schließung die Landesheimverordnung, die ab dem 1. September 2019 verlangt, dass Bewohnern von Heimen ein Einzelzimmer zur Verfügung stehen muss.
Das Median Haus St. Georg Nordrach hat eine sehr abwechslungsreiche Geschichte aufzuweisen.
Lungenheilstätte Hettinger 1900 bis 1905
Der Arzt Dr. Hettinger errichtete 1899 bis 1900 das architektonisch imposante Gebäude und betrieb darin seit 1900 ein Lungensanatorium. Aus finanziellen Gründen verkaufte er im Jahre 1905 das Sanatorium an die »M. A. von Rothschild´sche Stiftung für lungenkranke Frauen«, die Adelheid de Rothschild am 7. April 1903 zum Andenken an ihren Vater gegründet hatte.
Rothschild-Lungenheilanstalt von 1905 bis 1942
Das Rothschild-Sanatorium wurde seit dem 15. November 1905 nach dem Wunsch der Stifterin bewusst nach orthodoxen Maßstäben geführt. Im Anstaltsgebäude wohnten der jüdische Arzt und das übrige jüdische Personal. Es verfügte über 48 hohe, luftige Krankenzimmer, Gesellschaftsräume, Synagoge, Lesezimmer sowie drei voneinander getrennte Liegehallen in verschiedenen Höhenlagen. Zum Besitz der Stiftung gehörte auch ein jüdischer Friedhof, dessen 22 Hektar großes Gelände am 15. Mai 1907 von Leo Maile erworben werden konnte. Von den 51 in der Zeit von 1905 bis 1941 in Nordrach verstorbenen jüdischen Personen fanden insgesamt 28 Verstorbene ihre letzte Ruhe auf diesem Friedhof. Am 29. September 1942 wurden die letzten der verbliebenen jüdischen Personen, der Chefarzt Dr. Nehemias Wehl, zwei Krankenschwestern sowie achtzehn Patientinnen, aus der Heilanstalt deportiert und »in den Osten abgeschoben«.
Heim Schwarzwald des Lebensborn e. V. von 1942 bis 1945
Das Grundstück wurde enteignet und auf den Lebensborn e. V. übertragen. Am 2. Oktober 1942, nur wenige Tage nach der Deportation der jüdischen Personen, traf ein Vorkommando des Lebensborn e. V. in Nordrach ein, um das Haus für die neue Nutzung einzurichten. Bereits am 7. November 1942 kam das erste Kind im Haus Schwarzwald zur Welt, 246 weitere folgten bis April 1945. Wie alle Lebensborn-Heime hatte auch das Heim Schwarzwald ein eigenes Standesamt, das die Geburten eigenständig registrierte, allerdings ohne sie ans Heimatstandesamt der Mutter und des Vaters weiter zu melden, um die Geheimhaltung zu sichern. Als die Front immer näher kam, wurde das Heim am 15. April 1945 geräumt und die Kinder wurden ins Lebensborn-Heim Hochland in Steinhöring gebracht.
Lazarett von 1945 bis 1948
Das Gebäude wurde zunächst von Amerikanern, danach von den Franzosen als Lazarett für französische Soldaten genutzt.
Französisches Kinderheim (Pouponnière) von 1947 bis 1949
Nach dem Krieg wurden zwischen 1945 und 1955 nach einer Schätzung ca. 100.000 Kinder in der französischen Besatzungszone geboren, deren deutsche Mütter mit französischen Soldaten ein Verhältnis hatten. Die französische Regierung unternahm alles, um diese »französischen« Kinder nach Frankreich zu bringen, auch gegen den Willen der Mütter. Das Nordracher Lazarett wurde aufgegeben und das Gebäude ab Juli 1947 als Sammelstelle für diese »französischen« Kinder genutzt. Die deutschen Mütter mussten, bevor die Kinder aufgenommen wurden, alle Rechte abgeben. Sie hatten keinen Anspruch mehr auf Vaterschaftsanerkennung oder Unterhaltszahlungen. Die Kinder kamen nach einem Gesundheitstest nach Frankreich und wurden zur Adoption freigegeben. Das Kinderheim wurde am 15. November 1949 geschlossen.
Lungensanatorium Zajac von 1952 bis 1969, danach Pflegeheim von 1969 bis 1993
Im Zuge der Wiedergutmachung kam das Sanatorium wieder in jüdischen Besitz. Nach einem zweijährigen Leerstand verkaufte im Jahre 1952 ein Sohn der Baronin Adelheid von Rothschild das Grundstück mit dem Sanatorium an Thaddäus Zajac aus Schömberg/Calw, dessen erste Frau eine polnische Jüdin war. Thaddäus Zajac betrieb die Einrichtung bis zum Jahre 1969 wieder als Lungensanatorium, danach kurze Zeit
auch als Krebsnachsorgeklinik, schließlich als neurologisch-psychiatrisches Pflegeheim.
St. Georg-Pflegeheim der Oberrheinischen Kliniken/Median Haus St. Georg Nordrach 1993 bis August 2019
Im Jahre 1993 übernahmen die »Oberrheinischen Kliniken« mit Sitz in Bad Krozingen das Pflegeheim. Dieser Träger wurde im Jahre 2012 von der Median Unternehmensgruppe mit Sitz in Berlin übernommen. Bis vor wenigen Monaten wohnten knapp einhundert Personen im Pflegeheim, teilweise schon seit mehreren Jahrzehnten. Sie waren Nordracher Einwohner und nahmen, soweit es jedem möglich war, auch am Dorfgeschehen Anteil. Die Heimbewohner waren akzeptiert und integriert. Die Patienten wurden zuletzt von 35 Mitarbeitern betreut.
Bereits im Jahre 2009 hat das Land Baden-Württemberg das Gesetz zur Gestaltung der Bau- und Raumkonzepte von Heimen erlassen. Diese müssen sich vorrangig an den Zielen der Erhaltung von Würde, Selbstbestimmung und Lebensqualität orientieren. Dies schließt das Recht auf eine geschützte Privat- und Intimsphäre der Bewohnerinnen und Bewohner von Heimen mit ein. Soweit Heime keine Wohnungen zur individuellen Nutzung bereitstellen, muss für alle Bewohnerinnen und Bewohner ein Einzelzimmer zur Verfügung stehen. Um diese Vorgaben umsetzen zu können, wurde den Heimbetreibern eine Übergangsfrist von zehn Jahren eingeräumt. Diese Frist läuft Ende August 2019 ab.
Doppelzimmer nicht mehr statthaft
Im Nordracher Haus St. Georg gibt es 70 Zimmer, davon sind 46 Doppelzimmer. Die Median Unternehmensgruppe sah es nicht als wirtschaftlich an, in dem Gebäude die Doppelzimmer auch als Einzelzimmer zu nutzen und hoffte auf eine Ausnahmegenehmigung. Aus therapeutischen Gründen, erklärte die Unternehmensgruppe, sei für die besondere Klientel im Haus St. Georg die Unterbringung in Doppelzimmern die optimale Form. Gespräche seien seit geraumer Zeit mit den zuständigen Behörden geführt worden, um eine bestmögliche Lösung für die Einrichtung zu finden. Die Gespräche blieben erfolglos, so dass das Pflegeheim zum letztmöglichen Zeitpunkt geschlossen werden musste.
Der Heimverwaltung ist es unter großen Anstrengungen gelungen, innerhalb von wenigen Monaten alle Patienten in anderen Häusern unterzubringen. Zahlreiche Mitarbeiter haben vorzeitig das Pflegeheim verlassen und sich einen anderen Arbeitsplatz gesichert. Schlimm erging es in dieser Zeit den verbliebenen Heimbewohnern, als immer mehr ihrer gewohnten Mitbewohner ausgezogen sind und sich ihre »Großfamilie« nach und nach auflöste.
Nachnutzung ungewiss
Für die Gemeinde Nordrach ist die Schließung des Pflegeheims ein großer Verlust. Die Gemeinde verliert mit einem Schlag fast einhundert Einwohner, was sich erheblich auf die Finanzzuweisungen auswirken wird. Ebenso ist der Verlust von fünfunddreißig Arbeitsplätzen zu beklagen.
Noch ist kein Konzept bekannt, was mit dem das Dorfbild prägenden Gebäude geschehen wird. Die Gemeinde sollte alles daran setzen, dass das denkmalgeschützte Gebäude wieder sinnvoll genutzt wird und so erhalten bleibt.
Die in unmittelbarer Nähe befindliche Median Franz-Alexander-Klinik ist von der Schließung nicht betroffen.
Bürgermeister Carsten Erhardt äußerte sich zur Schließung wie folgt: »Es ist natürlich sehr bedauerlich, dass das St. Georgs Pflegeheim schließt. Die Bewohner waren immer ein Teil von Nordrach. Insbesondere mit den Verantwortlichen vor Ort hat die Gemeinde Nordrach ein sehr gutes Verhältnis gepflegt. Daraus entstanden auch verschiedene Initiativen, um den Betrieb der Einrichtung zu erhalten. Diesen Prozess hat die Gemeinde Nordrach nach Kräften unterstützt. Leider ohne Erfolg. Trotz des schmerzlichen Verlustes der Einrichtung freue ich mich, dass die Bewohner eine neue Bleibe und fast alle Mitarbeiter eine neue Beschäftigung gefunden haben. Die Gemeinde Nordrach bemüht sich nun intensiv darum, eine Nachnutzung in das Areal zu bekommen. Hierzu laufen schon verschiedene Gespräche. Schlussendlich entscheidet jedoch der Eigentümer, was mit dem Areal passiert. Bedanken möchte ich mich bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Pflegeheims sowie den ehrenamtlichen Betreuern, die sich um die Menschen gekümmert haben.«