»Ich war gleich fasziniert und konnte es selbst aber erst mal gar nicht glauben«, erzählt Frisörmeisterin Evi Lehmann, die 2018 den Biberacher Friseursalon Figaro von ihren Eltern Wilhelm und Monika Schmider übernommen hat. Was sie nicht glauben konnte, war, dass menschliches Haupthaar auf Wasser schwimmendes Öl an sich zu binden vermag.



»Ich bin gleich losgerannt, um das selbst auszuprobieren«, erinnert sich die 49-Jährige. Aus dem Abfall ihres Frisörsalons schnappte sie sich einen Zopf, füllte einen Behälter mit Wasser, goss Öl hinein und zog den Zopf hindurch. Und siehe da: Das Haar saugte das Öl tatsächlich an, reinigte auf diese ganz natürliche Weise das Wasser, ohne den Einsatz von Chemikalien.
Dem Phänomen liegt keine Zauberei zugrunde, sondern eine naturgegebene Eigenschaft: »Haare nehmen das natürliche Fett der Kopfhaut auf«, weiß Evi Lehmann. Das dient dem Schutz der schuppenförmig aufgebauten Hornfäden. Sind sie fettig geworden, wäscht Mensch sich den Kopf und der Kreislauf beginnt von vorn.
Bis zu acht Liter Öl oder ölige Substanzen vermag ein einziges Kilo Haare an sich zu binden. Erstmals eingesetzt wurde das Prinzip 1978 von französischen Fischern, als es an der Küste der Bretagne eine große Ölkatastrophe gab. Sie befüllten die Nylonstrumpfhosen ihrer Frauen mit Haaren und warfen sie ins Meer, um das Rohöl auf diese Weise aufzusaugen.
Der Franzose Thierry Gras, der in der Nähe von Marseille einen Frisörsalon betreibt, griff das Prinzip 37 Jahre später auf. Er begann, das abgeschnittene Haar seiner Kunden sowie jener anderer Frisörsalons zu sammeln, die sich seiner Aktion anschlossen. Langzeitarbeitslosen verhalf er zu Arbeit, indem er sie ausrangierte Kompressionsstrümpfe – die wiederum von umliegenden Krankenhäusern stammten – mit den tonnenweise gesammelten Haaren befüllen ließ: Fertig waren Ölfilter aus rein recycelten Materialien.
In grobe Schlauchnetze gefüllt, hatten sie ihren ersten großen Einsatz 2020, als vor Mauritius ein Frachter verunglückte und das Meer von einem 30 Quadratkilometer großen Ölteppich bedeckt wurde.
Stützpunkt in Deutschland
Es war ein Jahr zuvor, dass Evi Lehmann in Frankreich Urlaub von ihrer Biberacher Heimat machte. »Und im Urlaub gehe ich immer zum Frisör«, erzählt sie schmunzelnd von ihrem ersten Kontakt mit der Haarsammelaktion im Nachbarland. Einer Aktion, der sich inzwischen 4500 der insgesamt rund 79 000 Frisöre in Frankreich angeschlossen haben.
Evi Lehmanns »Figaro« macht seit dem vergangenen ersten April mit. Und zwar über eine deutsche Organisation mit dem Namen »Hair help the Oceans«. Mit Sitz in Bückeburg ist sie zur Unterstützung des französischen Vorbilds entstanden und sammelt abgeschnittenes Haupthaar nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Österreich und der Schweiz.
»Wegen der Corona-Pandemie hatte ich das Thema erst einmal aus den Augen verloren«, erzählt die Mutter eines 15-jährigen Sohnes und einer 19-jährigen Tochter. Eben diese beiden aber »machen mentalen Druck in Hinblick auf die Zukunft, und das finde ich für meine Generation auch wichtig, denn manchmal übersehen wir vieles.« Gemeinsam wurde daher überlegt, »wie können wir mehr an die Natur denken, und was kann ich selber machen?«, berichtet die stets voller Elan Wirkende von dem endgültigen Auslöser, sich an der Haaraktion zu beteiligen.
Dass Haare viel mehr können als schön auszusehen, das hat Evi Lehmann schon als Kind von ihrer Oma gelernt. Die stammte aus dem Schwabenland und wusste, wie wertvoll abgeschnittenes Haargut ist. Zum einen in Privatgärten als Dünger, der beispielsweise beim Pflanzen von Tomatensetzlingen in die Erde eingearbeitet wird. Zum anderen hatten Wald arbeiter Verwendung für den Haar«abfall«. Denn verteilt man diesen um frisch gepflanzte junge Bäume, so schützt der anhaftende Geruch nach Mensch vor Wildfraß.
Es begann mit der Oma
»Meine Oma hat das Ganze eigentlich in Bewegung gebracht«, resümiert Evi Lehmann mit Blick auf ihr Engagement bei »Hair help the oceans«. Wenn wir irgendetwas, in dem Haare drin waren, in den Abfall warfen, hing der Haussegen schief«, erinnert sie sich mit einem Schmunzeln an die Ahnin, die das Geschäft in den kriegsgebeutelten 1940er Jahren gemeinsam mit dem Opa aufgebaut hatte. »Sie hat ihn angelernt«, erzählt die heutige Saloninhaberin, denn wie sie selbst war auch die Großmutter Friseurmeisterin – das allerdings machte die Ahnin zu einer außergewöhnlichen Vertreterin ihrer Zeit.
Als streng eingehaltene Tradition vererbte sich das Sammeln der von kundiger Frisörhand abgeschnittenen Haare von besagter Großmutter über den Vater an Evi Lehmann. Immer mit größtem Wert auf Sauberkeit – und gerade die ist auch für die Herstellung der Ölfilter ausschlaggebend. Frisch gewaschen und somit frei von jeglichen Rückständen müssen die Haare sein, damit sie ihre Saugkraft voll entfalten können. Gänzlich ohne Bedeutung hingegen die Haarfarbe, sei sie natürlicher Art oder coloriert.
Mindestens drei bis fünf große Säcke voll sammelt Evi Lehmann, damit sich die Abholung durch »Hair Help the Oceans« lohnt – im Normalbetrieb sind diese Säcke in vier bis sechs Wochen gefüllt. »Für die Abholung der Haare und das Fabrizieren der Ölfilter zahle ich 25 Euro im Monat, weil sich diese deutsche Organisation momentan noch im Aufbau befindet«, erklärt die Biberacher Friseurmeisterin.
Mit-Übeltäter Sonnencreme
»Haare gehören einfach nicht in den Müll«, betont sie, »und die Sache mit den Öl filtern aus Haaren – das finde ich für die Zukunft was ganz Tolles.« Denn die Filter können auch in Seen und Flüssen ölige Verunreinigen aufsaugen. Neben Rohöl, Diesel und Benzin ist auch – jawohl! – Sonnencreme ein ernst zu nehmender Übeltäter in punkto Wasserverschmutzung, wie Evi Lehmann von ihrem Ansprechpartner bei Hair Help the Oceans erfuhr.
Ebenfalls für Schwimmbäder können aus Haaren bestehende Filter daher eingesetzt werden, desgleichen in Duschanlagen von Hotels oder Turnhallen, »dann müss te man keine aggressiven Rohreiniger mehr verwenden.« Hinzu kommt: Bis zu achtmal lassen sich solche Filter wiederverwenden, indem man sie wäscht.
»Ich will, dass sich möglichst viele Menschen an dieser Aktion beteiligen«, ist Evi Lehmann wichtig, »wer Interesse hat, der kann sich gerne bei mir melden – Frisörkollegen genauso wie deren Kunden – ich stelle dann den Kontakt her.«
Weil auch ihre Kinder begeistert von dem Projekt sind, erzählte ihr Sohn in der Schule davon. Mit so großer positiver Resonanz, dass die Frisörmeisterin nach dem Sommer auch in der Grundschule und im Kindergarten erklären und vorführen will, wie sehr Menschenhaar unseren Gewässern und dem Meer helfen kann.
Im Internet erkundigen kann man sich unter www.hair-help-the-oceans.com.